Das beabsichtigte Projekt hat zum Ziel, die Frauen und Mädchen, die zum Zweck der Ausbeutung in der Prostitution nach Deutschland verschafft worden sind, nach ihren Erfahrungen zu befragen.

Im Jahr 2021 hat das Bundeskriminalamt im „Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung 2021“ 291 Vorgehen gegen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung vollzogen. 92,8 % der insgesamt 417 gezählten Opfer waren weiblich (= 387). Im Berichtsjahr kam es zu 237 gerichtlichen Verfahren. 220 der geführten Verfahren lauteten auf „kommerzielle Ausbeutung von Minderjährigen“, wobei das Durchschnittsalter bei 15 Jahren lag. Das Bundeskriminalamt berichtet, dass die Opfer zunehmend in sogenannten Wohnungsbordellen (statt auf dem Straßenstrich oder in Bordellen) ausgebeutet werden und berichtet von einem „hohen Dunkelfeld“. Der Tatbestand sei ein Kontrolldelikt, das bedeutet: Je mehr die Polizei kontrolliert, desto mehr Fälle sind auffindbar. Kontrolliert sie nicht, bleiben die offiziellen Fallzahlen zu diesem Tatbestand niedrig, da die Taten nicht aufgedeckt werden. Die Polizei berichtet ebenso, dass nur die Hälfte der die Taten betreffenden Anzeigen von den Opfern selbst erstattet wird, da die Opfer selbst Angst vor den Tätern, aber auch vor Polizei und Behörden haben. Die meisten Opfer stammten aus Deutschland selbst, gefolgt von Bulgarien, Rumänien, China, Ungarn und Thailand. 20,4 % der Opfer wurden durch eine Vorspiegelung einer Beziehung zum Täter in die Prostitution verbracht (sog. „Loverboymethode“), 15,8 % wussten vorher, dass sie sich prostituieren sollten, 16,1&nbps;% waren durch Täuschung in die deutsche Prostitution verbracht worden, 11,3 % sind durch ihre Familien in die Prostitution gedrängt worden.1

Diese Zahlen bezeichnen das Hellfeld, d. h., die Fälle, die der Polizei bekannt sind. Für das beabsichtigte Projekt sollen Frauen und Mädchen befragt werden, die sich noch in der Prostitution befinden und die dem Dunkelfeld zuzurechnen sind, d. h., deren Ausbeutung der Polizei nicht zur Kenntnis gelangt ist und in deren Fall die ihnen zugefügten Taten nicht zur Anzeige gebracht worden sind. Der Zugang zu den Frauen und Mädchen soll über mehrere Beratungsstellen erfolgen, die aufsuchende Arbeit an Straßenstrichs, aber auch in Wohnungs- und anderen Bordellen betreiben. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden Dolmetscherinnentätigkeiten dafür genutzt werden müssen. Die Interviews haben nicht zum Ziel, eine repräsentative Statistik zu erstellen, dies ist im Rahmen eines solchen Projektes auch gar nicht möglich. Vielmehr soll Wert gelegt werden auf die individuellen (oder vielleicht auch gemeinsamen?) Erfahrungen, Lebensgeschichten und Narrative, die dabei zum Vorschein kommen und nach denen bisher selten gefragt wird.

Die Frauen und Mädchen, die sich an Beratungsstellen, Hilfestellen usw. wenden, tun dies nicht unbedingt, weil sie in absehbarer Zeit einen konkreten Ausstieg aus der Prostitution planen. Oft sind es alltäglichere Dinge, die sie mit dem aufsuchenden Personal der Hilfestellen verbinden: z. B. das Aufwärmen in den Räumen, die Abgabe von Kondomen, das Trinken von Kaffee oder Tee. Längst nicht alle der nach Deutschland gemenschenhandelten Frauen und Mädchen, die diese Stellen nutzen, sind sich dessen bewusst, dass sie Menschenhandelsopfer sind, so wie ja auch in der deutschen Mehrheitsbevölkerung oft nicht die korrekte Definition von Menschenhandel bekannt ist, nämlich, dass dafür weder ein Grenzübertritt noch physische Gewalt oder Verschleppung im direkten Sinne nötig ist, oder auch, dass Menschenhandel auch dann Menschenhandel sein kann, wenn das Opfer dem zustimmt und vor allem auch dann immer Menschenhandel ist, wenn Personen unter 21 Jahren in die Prostitution verbracht werden – oder angehalten werden, darin zu verbleiben. Denn dafür, ob Menschenhandel stattgefunden hat, ist es nicht relevant, ob das Opfer sich zuvor bereits prostituierte oder nicht.

Gefragt werden sollen die betroffenen Frauen zunächst nach der familiären, ökonomischen, aber auch privaten Situation in ihren Heimatländern sowie nach der Verbringung nach Deutschland. Wie war ihr Leben, bevor sie nach Deutschland kamen? Wer hat die Reise organisiert, wer hatte die Idee, erfolgte eine Zustimmung, hatten die Frauen und Mädchen die Gewissheit oder eine Ahnung davon, dass sie sich hier prostituieren sollen oder nicht? Gefragt werden soll auch und vor allem nach dem Leben, das die betroffenen Mädchen und Frauen jetzt in Deutschland führen. Wie sieht ihr Alltag jetzt aus, wie erscheint ihnen ihr Leben in Deutschland? Wie bewerten und betrachten sie ihre eigene Situation? Mit welchen Menschen außerhalb des Täterkreises kommen sie in Kontakt – wie sind ihre Erfahrungen mit oder Vorstellungen von: den Freiern, die sie bedienen (müssen), der Polizei, den Behörden, den SozialarbeiterInnen der Hilfestellen, der deutschen Mehrheitsgesellschaft? Wie ist ihre Beziehung zu den Tätern, zu den Freiern, zu den Hilfestellen, zu den nichtbeteiligten Personen (z. B. PassantInnen)? Was bekommen sie von Deutschland mit, wie nehmen sie Deutschland und seine Gesellschaft wahr und inwieweit kollidiert diese Wahrnehmung mit der Vorstellung, die sie zuvor von Deutschland gehabt haben?

Nach der Feststellung von individuellen und gemeinsamen Erfahrungen im bisherigen Leben der nach Deutschland gehandelten Frauen und Mädchen soll vor allem Wert auf zwei weitere Themenfelder gelegt werden.
Erstens soll erforscht werden, ob die betroffenen Frauen und Mädchen wissen, dass sie Menschenhandelsopfer sind.

Das Bundeskriminalamt beschreibt im Bundeslagebild Menschenhandel 2021, dass es vor allem deutsche Opfer sind, die den hiesigen Menschenhandelsparagraphen kennen und die auch deswegen Anzeige erstatten können, weil sie über ihre Rechte informiert sind. Auch hätten sie mehr Vertrauen zu Polizei und Behörden. Opfer, die nicht aus Deutschland kommen, sondern im Rahmen der sexuellen kommerzialisierten Ausbeutung erst hierher verschafft worden sind, und die häufig aus prekärsten Familienverhältnissen in Osteuropa stammen, würden die Ausbeutung bei der Polizei auch deswegen nicht anzeigen, weil sie eben ihre Rechte (und die Gesetzeslage) nicht kennen und der Polizei nicht vertrauen.2

In den Interviews sollen die Frauen und Mädchen gefragt werden, ob sie wissen, was Menschenhandel ist, ob sie die Gesetzeslage kennen und damit auch ihre Rechte, ob sie jemals den Gedanken hatten, sich an die Polizei zu wenden und wenn ja, warum dies nicht geschehen ist.

Zweitens sollen die Zukunftsvorstellungen der Frauen Raum bekommen. Können sie sich vorstellen, dass die jetzige Situation beendet wird? Wenn ja, wie stellen sie sich das vor, was bräuchten sie, welche Hilfen benötigen sie, was würden sie sich wünschen? Was sind ihre Ziele und Hoffnungen für die Zukunft, welches Leben würden sie sich für sich selbst wünschen, wenn ihre Ausbeutung in der deutschen Prostitution ein Ende hätte und welches Leben würden sie führen (wollen), wenn sie nicht sexuell ausgebeutet würden?

1Bundeskriminalamt, Menschenhandel und Ausbeutung – Bundeslagebild 2022, Wiesbaden, Oktober 2022, S. 8f. Online abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/Presse/…, zuletzt abgerufen am: 28. Februar 2022.

2Bundeskriminalamt, Menschenhandel und Ausbeutung – Bundeslagebild 2022, Wiesbaden, Oktober 2022, S. 8. Online abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/Presse/…, zuletzt abgerufen am: 28. Februar 2022.